Claus O. Köhler

Claus O. Köhler
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Glossen - Sinn und Unsinn der Medizinischen Informatik

Sinn und Unsinn der Medizinischen Informatik

 Claus O. Köhler

Vor dem Wagnis, den Unsinn oder gar den Sinn der Medizinischen Informatik herausarbeiten zu wollen, muß ich eigentlich diesen zusammengesetzten Begriff insgesamt und in seinen Teilen vollständig definieren. Natürlich haben das schon Andere, sehr viel Berufenere als ich, getan, aber vielleicht nicht unter dem Gesichtswinkel, der mir eigentlich mehr liegt. Dieser Gesichtswinkel ist am besten mit dem von Karl Valentin zu vergleichen. 'Gesichtswinkel' kann man immer am leichtesten an einem Beispiel erläutern. Valentin sagte einmal: 'Ich habe ge­träumt, ich sei nach Kottbuss gefahren und habe dort meine Tasche stehen lassen, und dann bin ich wach geworden. Jetzt muß ich zurückträumen, um meine Tasche wieder abzuholen.'

Was ist MI unter diesem Gesichtswinkel? Am einfachsten ist sicher die Erklärung, daß es das Autokennzeichen von Mailand ist. Wäre das zu weit hergeholt? Mailand - die Stadt der Mode, der Farben, des Fußballs der Künste, des Big Business, des Dolce far Niente - - alles Attribute, die auch für die MI zutreffen. Das muß natürlich sofort bewiesen werden.

Fangen wir mit der Mode an. Die MI war immer schon besser angezogen und sah auch immer besser aus, als es darunter wirklich  zu finden war. Die MI-Industrie lebt geradezu davon, den anderen mit ihrem schönen Äußeren das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Mit den Farben haben wir seit Big Blue in der MI natürlich überhaupt keine Probleme mehr. Rechner in der MI konnten alle Farben haben, nur blau mußte es sein. Heute ist die Palette et­was reicher geworden, aber richtig farbig ist sie immer noch nicht (wenn es nicht den guten Apfel gäbe, der aber erst noch Anstregungen unternimmt, als Heilmittel in der Medizin auch an­erkannt zu werden).

Sie werden nun sicher sagen, jetzt haben wir ihn, mit Fußball hat ja nun wohl die MI wirklich nichts am Hut. Abwarten. Wer spielt sich wohl besser immer wieder den Ball gegenseitig zu, wenn es darum geht, die Pleiten herunter zu spielen, ich erinnere nur an DOMINIG (es gibt aber noch viele andere Beispiele). Außerdem lebt die MI oft geradezu nur noch von Eigentoren - siehe Absage der GMDS-Jahrestagung in Dresden 1993. Darüber hinaus steht weit über die Hälfte der MI-Gemeinschaft ständig im Abseits - siehe Beschäftigung mit Standardisierung, mit Sicherheitstechnologie und mit Primary und Shared Care. Nicht reden will ich gar vom Foul des gestreckten Beins.

Künste - was hat wohl die MI mit Kunst zu tun? Wirklich alles: MIler (Systemanalytiker, Programmierer etc) bezeichnen sich noch heut' gern als Künstler. Das kam auch im Festvortrag von Herrn Möhr zum 20-jährigen Jubiläum des Fachbereichs MI in Heidelberg / Heilbronn wieder zum Ausdruck, der den ingenieur-wissenschaftlichen Ansatz der MI hinter den kultur-politischen stellte, und Kultur-Politik ist nun einmal Kunst par exellence.

MI und Big Business - widerspricht sich das nicht? Mitnichten, es kommt dabei nur auf die Relationen an (Relation ist sowieso groß in Mode). 100.000 Mark sind im Gesundheitswesen nicht einmal eine marginale Größe, 100.000 Mark im Beratungsgeschäft relevanter Hoch­schul­institute sind Big Business.

Beim letzten Attribut - das dolce far niente - hat ja wohl keiner der Zuhörer irgendwelche Zweifel, es tut sich nichts, aber auch garnichts. Die MI dümpelt - zumindest in Deutschland - so vor sich hin und ruht sich auf den nicht erworbenen Lorbeeren aus. Heimst ab und zu einen Preis ein, von denen man kaum weiß wie er entstanden ist, wer ihn vergibt und weswegen nun ausgerechnet dieser und jener ihn erhalten hat. Leider ist dieses Dümpeln auch für junge Wissenschaftler und sogar für Studenten zu konstatieren, sie sind zwar - meistens - fleißig, aber nicht 'offen' genug, um das 'Dümpeln' in ein 'Fahren' umzuändern.

Aber als ernsthafter Wissenschaftler reicht mir natürlich eine einzige, und noch dazu so billige Erklärung der MI nicht aus. Lassen Sie mich tiefer hinabsteigen. Und bei der Analyse der bei­den Teile der MI beginnen: Medizin und Informatik.

Bei der Medizin kommen wir natürlich auch sofort wieder auf den oben schon erwähnten Kunstbegriff: Die 'Heilkunst' ist auch heute noch ein gern benutzter Begriff, insbesondere von den Internisten, Dermatologen und Psychiatern (sind das gerade die Fachbereiche, bei denen die Medizin noch arg in den Kinderschuhen steckt?), in denen aber auch die MI nicht gerade große Blumentöpfe geerntet hat und auch keine Anstrengungen unternimmt, um das in der Zukunft zu tun.

Was fällt einem sonst noch zur Medizin ein? Natürlich Patient. Was wäre die Medizin ohne Patienten? Ein Krankenhaus würde endlich einmal gut funktionieren, und das KIS darin eben auch. Hier muß ich einen der alten Meister der Medizinischen Dokumentation zitieren - Albin Proppe. Proppe hat sich mit medizinischer Informatik beschäftigt, als die Lochkarten wegen Papiermangels noch knapp waren und man falsche Löcher sogar wieder zuklebte, nämlich gleich nach dem zweiten Weltkrieg. Da waren die meisten Ihre Eltern noch Kinder. Proppe war zur Einweihung des Instituts für Medizinische Informatik der Medizinischen Hochschule Hannover (das dritte oder vierte seiner Art in Deutschland) gekommen, das unser leider viel zu früh verstorbener erster Präsident Peter Leo Reichertz aufgebaut hatte. Das Institut wurde schon Wochen vor der Eröffnung der MHH mit einem 'vollständigen' KIS eingeweiht. Proppe stand vor dem Bildschirm und schüttelte sein damals schon weises Haupt und murmelte: 'Fan­tas­tisch, fantastisch, und wenn man sich vorstellt, alles ohne einen einzigen Patienten.'

Zu Patient fällt mir natürlich noch viel mehr ein, aber einerseits muß in dieser Hinsicht einer­seits wirklich jeder seine eigenen Erfahrungen machen - hoffentlich die meisten recht spät - und andererseits will ich die Mediziner nicht allzusehr vergrätzen (ich bitte zu beachten, daß ich eben nicht 'Ärzte' gesagt habe, die kann man eben nicht vergrätzen).

Es ist sicher aufgefallen, daß ich bisher immer nur über die Medizin und ihre zugehörigen Begriffe berichtet habe, ohne den Versuch zu machen, die Medizin definieren zu wollen. Ich will es jetzt versuchen.

Medizin ist der Einsatz natürlicher Intelligenz mit Anfängen von naturwissenschaftlicher Me­tho­dik unter intensiver Berücksichtigung psychologischer Fähigkeiten.

Vielleicht stimmt das nicht für alle Krankheiten und für alle Patienten, aber was stimmt schon absolut. Selbst die bedeutsamste Theorie in den letzten hundert Jahren überhaupt ist nur relativ. Also werden wir wenigstens für heute Abend versuchen, mit dieser Definition der Medizin

zu leben, zu essen und zu trinken. Übrigens, alle diese drei Tätigkeiten sind lebensgefährlich, aber alle drei machen auch unsagbar Spaß (da war doch noch was?).

Natürlich muß ich einiges ausführen, um diese Definition auch wissenschaftlich zu untermau­ern. Der erste Teil ist sicher ohne große Erklärung einsichtig, es soll zwar auch nicht-intelli­gente Ärzte geben, das kommt sogar unter den MIlern vor, aber das sind dann eben keine Ärzte sondern vielleicht Mediziner.

Wo liegen die Anfänge naturwissenschaftlicher Methodik? Warum sind es nur Anfänge? Das, was sich im lebenden Körper von Tieren und Menschen abspielt, ist ein Mixtum Compositum aus Biologie, Biochemie, Chemie, Biophysik, Energie-Physik, Strömungs-Physik und etliches mehr. Selbst die einzelnen dieser Wissenschaftgebiete sind noch längst nicht vollständig er­forscht, viel weniger das Zusammenspiel zwischen allen diesen  so unterschiedlichen Wissen­schaftsgebieten. Ich habe vor 17 Jahren, auf der GMDS-Jahrestagung in Heidelberg, einmal die Analogie mißbraucht, daß unser vorhandenes Wissen zum nötigen Wissen in der Medizin sich verhält wie die ersten 20 cm zum  Besteigen des Mt Everest. Nach hitziger Diskussion damals haben wir uns auf die ersten 20 Meter geeinigt. Heute sind wir vermutlich schon ein paar hundert Meter hoch. By the way - der Mt. Everest ist über 8000 Meter hoch.

Kommen wir zum letzten Teil der Definition - der Psychologie. Das hat sich sogar schon fast in der Schulmedizin durchgesetzt, daß diese eine erhebliche Rolle spielt, vielleicht nicht in der Medizin aber doch sehr stark im Umgang mit den Kranken. Das bringt dann vielleicht auch meine schiefe Sicht auf Mediziner wieder ein wenig mehr ins rechte Lot. Wie wichtig aber die­ser Teil der Definition der Medizin ist, zeigt eine ganz neue  Wissenschaftsrichtung, über die selbst die Schulmedizin nicht mehr getraut sich lustig zu machen, die Neuro-Psycho-Immu­no­logie - NPI. Da haben wir noch einiges Interessante zu erwarten. Es ist Ihnen hoffent­lich auf­gefallen, daß ich in der Definition nur von den psychologischen Fähigkeiten allgemein ge­spro­chen habe, darunter fallen demgemäß auch die unsrigen als Patienten - siehe NPI.

Das mit der Medizin wäre also erledigt, jetzt kommt die .bd Informatik. Das ist noch schwie­riger, die Medizin hatte schon so lange Zeit, sich gegen die Angriffe der Patienten und so Leuten wie mich vorzubereiten und sie erfolgreich abzuwehren. Da hat es die Informatik noch besser, es gibt kaum jemanden, der sie angreift - wären da nicht ein paar Dissidenten wie Wei­zen­baum etc.. Ich muß also versuchen, in der gleichen Art wie bei der Medizin, eine ad­äquate Definition zu finden.

Informatik ist der Einsatz natürlicher und künstlicher Intelligenz mit fortgeschrittener Methodik der Elektronik, Mechanik und Elektrotechnik unter intensiver Berücksichtigung psychologi­scher Fähigkeiten der Benutzer der Verfahren.

Hier ist eigentlich nur der letzte Teil der Definition erklärungsbedürftig. Warum ist Informatik nur dann Informatik, wenn die Berücksichtigung - sogar die intensive Berücksichtigung - der psychologischen Fähigkeiten der Benutzer gewährleistet ist? Einfach gesagt: Wenn etwas nicht benutzt werden kann, weil niemand die Fähigkeiten der Benutzer im Eindenken in den Gebrauch von Verfahren berücksichtigt, ist es vielleicht Philosophie oder Wissenschafts­tou­ris­mus aber niemals Informatik. Ich habe z.B. im Gegensatz zu den Versprechungen im Laufe von 28 Jahren gelernt, daß es immer schwieriger geworden ist, Systeme anzuwenden. Zu­ge­ge­ben, jetzt will ich auch wesentlich mehr machen als vor 28 Jahren. Leider will ich aber immer mehr als es meine Fähigkeiten erlauben. Das ist vermutlich die typische Überschätzung der Benutzer-Fähigkeiten von sogenannten Informatikern.

Jetzt kommt's - die Medizinische Informatik. Müßte eigentlich ganz einfach sein, man schmeißt beides zusammen. Geht das? Zweimal Intelligenz hebt sich auf, man würde also keine Intelli­genz oder sogar Un-Intelligenz einzusetzen haben. Und das wollen wir uns dann doch wohl nicht antun. Also lassen wir bei dieser Definition die Intelligenz einfach aus dem Spiel - wir setzen sie stillschweigend voraus, vielleicht merkt es keiner.  Also wie dann? Das mit den Anfängen der x Wissenschaftsgebiete und den fortgeschrittenen drei klassischen Richtungen paßt schon ganz gut, reicht aber nicht aus. Denn in die MI gehen ja auch noch Sachen wie Betriebs­wirtschaftslehre mit ihren Subspezialitäten, Mathematik und Assembler ein. Ergebnis: Die eierlegende Wollmilch-Sau. Ich habe in der Schule einmal die Definition der Mystik gelernt, vielleicht wäre diese auch für die MI einzusetzen - das Suchen in einem stockdunklen Raum nach einer schwarzen Katze, die garnicht darin ist.

Lassen wir das, Beispiele helfen vielleicht weiter. Wenn ein Arzt aus drei Krankengeschichten jeweils 65 Merkmale mit ihren Ausprägungen extrahiert hat (man beachte die medizinische Ausdrucksweise) und damit zum Statisker läuft, um es signifikant machen zu lassen, dann ist das heute MI, weil ja schließlich ein Soda-PC benutzt worden ist. Soda-PCs sind PCs die so da rumstehen.

Natürlich ist MI auch, wenn ein Chefarzt seiner Sekretärin einen PC hinstellt, mit dem sie dann die Privatabrechnung machen kann und die Tagespost erledigt. Ein weiteres sehr interessantes Beispiel ist die Erarbeitung des 85. Diagnosenschlüssels. Wir brauchen noch viel mehr derarti­ger Schlüssel, die Vergleichbarkeit ist immer noch viel zu hoch. Selbstverständlich gibt es viele weitere Beispiele, die aber an diese Qualitäten kaum herankommen können. Es gibt ja schließ­lich auch schon mehr als 600 MIler, die eben ihren Einsatz durch diese vielen tausend Beispiele unter Beweis gestellt haben. Das könnte man z.B. auch als Definition für die MI heranziehen: MI ist alles das, was ein Diplom-Informatiker der Medizin tut. Da käme dann zu der  eierlegen­den Wollmilch-Sau noch die eckige Legeröhre und die Schmetterlingflügel hinzu.

Es sollte doch wieder ernsthaft werden. Über den Unsinn der MI habe ich wahrscheinlich ge­nug geredet, jetzt muß ich es wohl doch auch einmal mit dem Sinn versuchen. Wozu dient die MI? Sie trägt zumindest eine Gesellschaft von mehr als 1000 Mitgliedern und zusätzlich einen Berufsverband. Was lassen sich dabei nicht alles für schöne Pöstchen zu vergeben - vom Präsidenten über den Rechnungsprüfer bis zum Arbeitsgruppenleiter (wobei nicht etwa gesagt ist, daß der dann auch noch arbeitet). Für die, die dann immer noch nichts abbekommen haben, gibt es noch Beiräte, Beisitzer - von Beischläfern habe ich noch nichts gehört, obwohl mir das in Kongressen und auch anderswo eine sehr häufige Tätigkeit zu sein scheint.

Weiterhin vergibt die MI ein eigenes Zertifikat, das Zertifikat Medizinische Informatik. Träger dieses Zertifikats dürfen sich einbilden, sie wären zu Höherem berufen - manche tun das sogar - sich einbilden. Was ist eigentlich Höheres in der MI? Der oder die darf dann statt mit 4 mit 16 Megabyte Hauptspeicher arbeiten. Oder darf dann auf einer der 32 Parallel-Sitzungen auf der Medinfo - diesem Jahrmarkt der Eitelkeiten (vanity fair) - einen Vortrag halten, den von den 15 Zuhörern sowieso keiner versteht, von den beiden Anwendern, die durch Zufall gerade da rein­geraten sind, ganz abgesehen. Außerdem macht das Zertifikat den Träger unsterblich, er steht für alle Zeiten in der Stammrolle der Zertifikatsinhaber.

Ich will meine Ausführungen über den Sinn und Unsinn der MI mit der Bemerkung schließen, daß es tatsächlich Produkte der MI geben soll, die mehr oder weniger vielen Patienten zu gute kommen. Ich muß mir jetzt für meinen nächsten Vortrag eine Methodik überlegen, wie auch das noch vermieden werden kann.

Heidelberg, 16.10.92